Dienstag, 16. März 2010

Mein Tag in Nepal

Das was ich in meinem Post vom 04.03. ueber den Umgang mit den Menschen geschrieben habe, gilt (so musste ich in den letzten Wochen feststellen) fuer meinen "Alltag" hier nicht. Das liegt wohl daran, dass ich waehrend meiner dreiwoechigen Reise als Touristin unterwegs war und ich als solche behandelt wurde. Jetzt verbringe ich die meiste Zeit des Tages in der Schule, wo ich als Mitglied der Shanti-Familie gesehen werde und an weitgehend touristenfreien Orten.

Ein Tag in meinem nepalesischen Leben sieht etwa so aus:
Nach einem kleinen Fruehstueck in unserem Volontaershaus, in dem ich mit zur Zeit sechs anderen Volontaeren wohne, gehe ich durch die Strassen einer Wohnsiedlung zu einer grossen Strasse, wo die Busse fahren. Haltestellen gibt es hier nicht; man kann einen Bus einfach heranwinken. Woher man weiss wohin er faehrt? Aus der Tuer eines jeden Busses haengt ein junger Mann, der den Wartenden im Vorbeifahren in zugenbrecherischer Geschwindigkeit die Ortsteile zuruft, in die der Bus faehrt: "ChawelBouddhaJorpattiChawelBouddhaJorpatti" Sie haben alle ein dickes Buendel Geldscheine in der Hand und kassieren den Fahrpreis beim Aussteigen - umgerechnet 10 Cent.
Langsam habe ich die ertraeglichste Moeglichkeit mit oeffentlichen Verkehrsmitteln von A nach B zu gelangen herausgefunden: Ich nehme ein Tuk-Tuk. Tuk-Tuks sind kleine dreiraedrige von einem Elektromotor betriebene Fahrzeuge. Es passen hoechstens zwoalf Leute rein und anders als bei den Bussen wird es auch nicht mehr gestopft bis man sich kaum noch bewegen kann.
Mit dem Tuk-Tuk fahre ich zu einer Kreuzung, wo die Strasse die Ringroad trifft - Kathmandus pulsierende Hauptverkehrsstrasse, die den Kern dieser riesigen Stadt umgibt und auf der es tagsueber nur langsam vorangeht. Dort steige ich nach kuerzerer oder laengerer Wartezeit in den Shanti Sewa-Schoolbus und werde gleich von den Kindern begruesst, die alle ihre dunkelrote Schuluniform tragen: "Good Morning Juliya!" Waehrdend der ca 40 minuetigen Fahrt fuellt sich der Schulbus immer mehr mit Kindern und jedes findet noch irgendwie einen Sitzplatz; auf dem Schoss eines aelteren Kindes oder auf einer freien Ecke eines Sitzes.
Gegen 10 Uhr beginnt der Unterricht. Vormittags bin ich Englischlehrerin fuer die Klassen drei, vier und fuenf. Der Englischlehrer hat die Schule vor einigen Wochen verlassen.
Nachmittags bin ich Foerderlehrerin. Bisher habe ich gemeinsam mit einem anderen Volontaer Aktivitaeten mit der Extra Class gemacht. Gestern ist mir jedoch klargeworden, dass ich die Extra Class betreffend etwas Grundlegendes aendern muss: Die Kinder haben individuelle, sehr verschiedene Lernschweirigkeiten und muessen also auch individuell gefoerdert werden und das ist am Besten moeglich, wenn ich mich nur einem Kind zuwende. Habe meine Idee der Einzelfoerderung mit den Lehrern besprochen und sie fand Zustimmung. Ich werde also in den naechsten Tagen mit der jeweiligen Klassenlehrerin ueber die Kinder sprechen und schauen, wie ich sie nach meinen Moeglichkeiten foerdern kann.
Gegen 15.45 faehrt der Schulbus zurueck. Die Nachmittage nach der Arbeit verbringen wir Volontaere oft in einem Cafe an der Stupa in Bouddha, unweit von unserem Haus.
Die Stupa ist das heilige Zentrum der Exiltibeter, die nach Nepal gefluechtet sind. Vorallem morgens und abends ziehen die buddhistischen Glaeubigen meditativ ihre Kreise um die Stupa und bringen die Gebetsmuehlen zum Drehen.
Von der grossen weissen Stupa blicken die alles-sehenden Augen des Buddha in alle vier Himmelsrichtungen und ueberall flattern bunte Gebetsfahnen im Wind.
Obwohl die Stupa ringsum von Cafes, Restaurants und kleinen Geschaeften umgeben ist und auch taeglich Touristengruppen herkommen, ist dieser Ort von einem meditativen Frieden durchdrungen, der den buddhistischen Glauben ausmacht.
In unserem Lieblingscafe koennen wir Stunden verbringen, lesend, lachend, in unsere Tagebuecher schreibend.
Zu Abend essen wir meist in Restaurants, manchmal sind wir auch eingeladen, wie zum Beispiel gestern in das Haus einer Shanti-Mitarbeiterin. Dort konnten wir eine Wohnzimmervorstellung traditionellen nepalesichen Tanzes und Musik erleben.
Am Wochenende machen wir oft Ausfluege und meistens auch das was nepalesiche Frauen Tag fuer Tag tun: Wir hocken auf unserer Dachterasse auf dem Boden vor unseren Waschwannen und schrubben unsere Kleidung.

Die Arbeit in der Schule bereitet mir grosse Freude und ich mache mich hochmotiviert an die Unterrichtsvorbereitung.
Ich habe das Gefuehl in meinem Innern ein Schatzkistchen zu haben, in dem all das ist, was ich mir in den vergangenen Jahren meines Lebens angeeignet habe und was mich ausmacht, meine Faehigkeiten und Begabungen. Aus diesem Schatzkistchen kann ich hier so viel schoepfen und schenken. Ich gebe gern daraus und dieses Geben erfuellt mich mit Freude!

Donnerstag, 4. März 2010

Unterwegs und bei der Arbeit

Gestern bin ich von einer dreiwoechigen Reise innerhalb Nepals wiedergekehrt. Gemeinsam mit drei anderen Freiwilligen fuhr ich nach Pokhara, das ca 200 km westlich von Kathmandu entfernt am Phewa-See liegt. Auf unserem Weg legten wir zwei Zwischenstopps in Ghorka und Bandipur ein.
Mit dem Bus fuhren wir zunaechst aus dem Kathmandu Tal heraus (die Smogwolke ueber der Stadt war weithin sichtbar), dann auf einer erstaunlich gut asphaltierten Strasse, die sich durch die Berge schlaengelte, welche wegen der alljaehrlichen monsunbedingten Erdrutsche alle terassiert sind und spaeter fuehrte uns der Weg durch eine fruchtbare Ebene, in der viel Landwirtschaft betrieben wird.

Waehrend der langen Busfahrten hatte ich viel Zeit, das Leben der Menschen auf dem Land zu beobachten. Das laendliche Leben ist zwar einfach, aber nicht arm. Die Menschen hier leben mehr oder weniger als Selbstversorger und die sozialen Unterschiede sind nicht so gross wie in der Stadt. Ihre Tage sind ausgefuellt mit Arbeiten, die bei uns ganz selbstverstaendlich nebenher laufen und um die wir uns nicht kuemmern brauchen, weil sie von Maschinen erledigt werden: Das morgendliche Wasserholen an gemeinschaftlichen Wasserstellen, das Waschen der Waesche von Hand, das Pfluegen des Ackers mit einem Pflug vor den zwei OChsen gespannt sind, der Transport von Holz, Reissaecken und Steinen in Koerben, die auf dem Ruecken getragen werden.
Ich habe mich gefragt, wie es sich wohl anfuehlen mag, jeden Tag so zu verbringen. Haben die Menschen Freude an ihrer Arbeit? Oder denken sie darueber nicht nach, weil die Arbeit einfach selbstverstandlich notwendig ist? Wie fuehlt es sich an, sein ganzes Leben in einen Dorf zu verbringen und (vorallem als Frau) Tag fuer Tag schwere koerperliche Arbeit zu leisten? 
Diese Menschen fuehren ein so komplett anderes Leben als ich, dass es mir nicht gelingt, mich dort hineinzuversetzen.

Es war wunderbar aus dem stressigen, lauten und dreckigen Kathmandu heruaszukommen und andere Seiten Nepals kennenzulernen!
So hatten wir z.B. wunderscheone Tage in einem autofreien (!) Doerfchen, das nur aus historischen Haeusern bestand, sind auf dem Dach eines Busses gefahren (windig mit guter Aussicht), haben uns von Blinden massieren lassen (Seeing Hands Pokhara) und waren Bootfahren (auf dem Phewa-See).

Von Pokhara aus machte ich mich gemeinsam mit einer anderen Freiwilligen zu einer fuenftaegigen Trekking-Tour im Annapurna-Gebiet auf.  Es gab beim Trekking (nicht zu verwechseln mit Wandern, das ja nahezu eine, laengerem Spaziergang gleicht) oft Momente, in denen ich mich fragte: Warum tu ich mir das eigentlich an? Doch nicht bloss um der schoenen Aussicht Willen?!
Beim achstuendigen Stufensteigen, mit 10 kg auf dem Ruecken und beissenden Magenschmerzen wurde es mir klar: Trekking ist vorallem eine Frage des Willens. 
Es ist auch Grenzerfahrung, ein Austasten der eigenen koerperlichen Grenzen. Auch Selbstkasteiung?
Willensuebung und Willensschulung. 
Anspannung und Anstrengung vs. Entspannung und Erschoepfung. 
Es ist auch Koerpererfahrung,  denn du musst deinen Koerper mit deinem Geist bezwingen. Eine enge Zusammenarbeit zwischen Koerper und Geist. Enger als sonst.

Als ich gestern wieder in Kathmandu angekommen war, hatte ich das Gefuehl, dass ich nun wirklich in diesem Land lebe, auch wenn es mir so fremd ist. Nach sechs Wochen fuehlt es sich nicht mehr wie ein kurzer Urlaubs-Aufenthalt an.

Hier geht es nun mit meiner Arbeit an der Extra-Class weiter. In der Shanti School werden auch Kinder mit leichten geistigen und koerperlichen Behinderungen aufgenommen. Vorallem den Kindern mit geistiger Behinderung faellt das Lernen schwer, sie brauchen einfach viel mehr Zeit als die anderen. Sie sind in die Klassen integriert und nehmen auch an allen Stunden teil, doch fuer die meisten von ihnen ist das oft anstrengend und frustrierend.
Fuer sie soll die Extra-Class nachmittags ein Raum sein, indem sie spielerischer und langsamer lernen koennen und duerfen. Ausserdem moechten die beiden anderen Freiwilligen und ich das Selbstbewusstsein und Selbstwertgefuehl dieser Kinder foerdern. 
In den eineinhalb Stunden, die uns nachmittags zur Verfuegung stehen, spielen malen oder basteln wir mit den Kindern. Die ca. zehn Kinder unserer Gruppe kommen aus den Klassen 1 bis 3 und sprechen nur wenig bis garkein Englisch.
Es ist eine grosse aber schoene Herausforderung, die Aktivitaeten so auszuwahelen, vorzubereiten und zu erklaeren, dass die Kinder sie verstehen.
Vormittags assistiere ich den Klassenlehrerinnen beim Unterricht und lerne viel dazu. Oder ich  versuche mit und fuer die schwerbehinderten Kinder, die in der Naehe der Schule wohnen, Aktivitaeten zu machen.

Die Haelfte meiner Zeit hier ist schon um und ich freue mich auf die naechsten Wochen, in denen ich in der Schule arbeiten und Ausfluege in der Umgebung von Kathmandu unternehmen werde. Vielleicht werde ich Ende Maerz fuer ein paar Tage in den Chitwan-Nationalpark im Sueden Nepals fahren und dort auf einem Elefanten durch den Dschugel reiten! 

Eine andere Sprache

Bevor ich nach Nepal kam, dachte ich, ich wuerde vielleicht Schwierigkeiten haben mit der stressigen Stadt, dem Schmutz, dem einfachen Leben, dem Essen... Aber das Anpassen an diese Umstaende fiel mir leicht. Es stellte sich heraus das die groesste Schwierigkeit der Umgang mit den Menschen hier ist. Ieh empfand und empfinde es oft als sehr anstrengend, den Menschen hier zu begegnen.
Was macht es so anstrengend? frage ich mich.

Zum einen ist es so, dass ich, wenn ich als Touristin in der Stadt unterwegs bin, stets misstrauisch sein muss, leider. Wird der heilige Mann, der mir entgegen kommt, mir gleich einen Tikka (roten Punkt) auf die Stirn druecken um anschliessend Geld fuer die unfreiwillige Segnung zu verlangen? Besser ich mache einen Bogen um ihn. Stimmt es wirklich, dass dieser Bus nach Goshala faehrt? Lieber frage ich noch zwei weitere Leute.

Ich habe auch gemerkt, dass ich oft misstrauisch bin, weil ich die vielen fremden Dinge und Menschen als feindlich empfinde, eben weil sie so fremd sind. Das ist vielleicht ein ganz urmenschlicher Instinkt. Dabei wollen mir die meisten Menschen doch garnichts Boeses. Trotzdem muss ich immer wachsam und oft misstrauisch sein - vielen Menschen gegenueber wahrscheinlich zu Unrecht.
Das misstrauisch-sein, der Argwohn ist anstrengend. 
Aber das ist etwas, was weniger wird umso laenger ich hier bin. Langsam lerne ich, wann ich misstrauisch werden sollte.

Ein anderer Punkt ist, dass ich die Sprache der Menschen hier nicht verstehe und zwar im doppelten Sinne: Ihre Worte nicht und ihre Gesten nicht.
Zum Beispiel wackelt ein Nepali mit dem Kopf hin und her wenn er Ja meint. ALso die Bewegung die wir machen, wenn wir unentschlossen sind. Ich weiss zwar dass sie Ja meinen, aber denke dass sie total unentschlossen sind. Ich muss mir also mit dem Kopf sagen, dass das Ja heisst, es also gewissermassen uebersetzen. So ist das auch mit anderen Gesten oder Verhaltensweisen: Wenn ich etwas als sehr unhoeflich oder merkwuerdig empfinde, versuche ich innerlichg dagegen zu arbeiten, indem ich mir sage, dass es moeglicherweise anders gemeint ist und ich es bloss falsch uebersetze. Ich versuche also eine neue Sprache zu lernen.
Es ist erstaunlich, wie sehr ich gepraegt bin durch die Kultur in der ich aufgewachsen bin - bis in die Bewegungen, die Mimik, die Gestik hinein. 

An was ich mich jedoch am wenigsten gewoehnen kann, ist, dass hier andere Grenzen gelten. Der Raum, den eine Europaer um sich herum benoetigt um sich wohlzufuehlen (ca. 1 m) ist ein anderer als der eines Nepalis. Das koente daran liegen, dass wir mitten im Zeitalter der Individualisierung stecken, wohingegen die Menschen hier ein viel ausgepraegteres "Clan-Verhalten" haben. Sie wissen vielleicht auch nichts von dem Schmerz der Einsamkeit, den man in einer europaeischen Gesellschaft empfinden kann und fuehlen sich noch viel mehr mit ihren Mitmenschen verbunden.
Ich habe dauernd das Gefuehl, dass Menschen in diesen Raum eindringen. Nicht bloss mit Armen und Beinen, vielmehr duch Anstarren und Anlabern.
Es ist einfach so, dass ich, wenn ich an einer Strasse entlanggehe oder in einen Bus einsteige nicht dauernd gefragt werden moechte woher ich komme oder ob ich einen Pashmina-Schal, Tigerbalsam oder sonstigen Schnickschnack kaufen moechte. Ich stehe also unter der staendigen Anspannung, meinen indivuduellen Raum verteidigen zu muessen.
Mittlerweile reagiere ich dann oft genervt, manchmal sogar aggressiv, obwohl ich so nicht mit den Menschen hier umgehen moechte.
Eigentlich moechte ich offen sein, muss mich aber oft verschliessen, um mich selbst zu schuetzen. Ich stehe unter der Spannung eines staendigen Balanceakts zwischen Oeffnen und Schliessen meiner selbst, ein standiges Austasten von unsichbaren Grenzen, fuer die ich (anders als zuhause) kein intuitives Gespuer habe, denn hier ist alles anders.
Auch ich bin anders und so taste ich auch meine eigenen Grenzen aus.